Ohr: Bau und Arbeitsweise

Ohr: Bau und Arbeitsweise
Ohr: Bau und Arbeitsweise
 
Das Ohr ist in das Außenohr, bestehend aus Ohrmuschel und dem durch das Trommelfell abgeschlossenen Gehörgang, das luftgefüllte Mittelohr und das flüssigkeitsgefüllte Innenohr unterteilt. Das Innenohr heißt wegen seiner schneckenhausartigen Windung Schnecke (lateinisch Cochlea). Sie ist Teil des Labyrinths, eines in Knochenkanälen eingebetteten geschlossenen Schlauchsystems, zu dem auch der Vestibularapparat mit den Gleichgewichtsinnesorganen gehört. In der Mitte des gewundenen Schneckenganges liegt das Spiralganglion, dessen Nervenzellen die Sinneszellen des Innenohres mit dem Stammhirn verbinden.
 
 Das Außenohr: ein Resonanzverstärker
 
Dass die Ohrmuscheln für das Hören wichtig sind, ist leicht zu demonstrieren. So hört man gleich viel mehr, insbesondere aus der zugehörigen Richtung, wenn man die Ohrmuscheln mit den Händen vergrößert. Setzt man dagegen in die Gehörgänge kurze Rohre ein, die ein oder zwei Zentimeter aus den Ohrmuscheln herausragen, und umgeht so die Ohrmuschel, kann man nicht mehr unterscheiden, ob eine Geräuschquelle vor oder hinter dem Kopf liegt. Ob die Einzelheiten der Ohrmuschelform für das Hören bedeutsam sind, ist noch immer umstritten. Dagegen spricht, dass die Teile des Außenohrs klein sind im Vergleich zu den Schallwellenlängen. Die Ohrmuscheln und Gehörgänge verbessern allerdings die Empfindlichkeit in dem wichtigen Frequenzbereich zwischen 2 und 7 kHz durch Resonanz. Angeregt durch die Schallwellen entstehen in dem nach außen offenen Luftraum wie in einer offenen Flasche akustische Resonanzschwingungen. Diese Schallverstärkung erreicht 13 dB im Bereich zwischen 2 und 3 kHz.
 
 Das Mittelohr als Schallüberträger
 
Die Menschen haben von ihren Vorfahren, die einstmals im Wasser lebten, das flüssigkeitsgefüllte Innenohr und damit ein Problem geerbt. Nach den physikalischen Gesetzen der Akustik dringt an der Grenze zwischen Luft und Wasser nur etwa ein Tausendstel der Energie des Luftschalls ins Wasser ein, während der größte Teil reflektiert wird. Die Berechnung der Schallenergie, die ins Innenohr eindringt, ist schwierig, weil außer dem Wellenwiderstand (akustische Impedanz) der Materialien auch die komplizierten morphologischen Besonderheiten des Mittelohres zu berücksichtigen sind. Messungen der Schwingungen des Steigbügels zeigen aber, dass tatsächlich 60 Prozent der Schwingungsenergie des Trommelfells in das Innenohr gelangen. Dieser große Nutzeffekt der Reizenergie kommt durch die komplizierte Konstruktion des Mittelohres zustande. Die drei Hörknöchelchen, Hammer, Amboss und Steigbügel, leiten die durch den Luftschall angeregten Schwingungen des großen Trommelfells gezielt auf das viel kleinere ovale Fenster weiter. Die Druckkraft vergrößert sich auch durch die Hebelwirkung von Hammer und Amboss. Die Übertragung der Schwingungen des Steigbügels auf die Bewegung der Flüssigkeit im Innenohr wird durch den Druckausgleich durch das runde Fenster erleichtert. Die Schwingungsenergie kann durch die Arbeitsweise des Mittelohrs somit besser ins Innenohr eindringen.
 
Wenn die Schallübertragung im Mittelohr gestört ist, kommt es zur Schallleitungsschwerhörigkeit mit Verschlechterungen der Empfindlichkeit um bis zu 70 dB. Die Steifigkeit der Reizleitungskette kann durch die Spannung von zwei kleinen Muskeln im Mittel- ohr vergrößert werden. Durch die Spannung dieser Muskeln wird die Übertragung tieffrequenter Schwingungen erschwert, was der Wahrnehmung in höheren Frequenzbereichen zugute kommt. Die Muskeln kontrahieren sich, bevor man selbst spricht, und schützen somit das Hörorgan vor der eigenen Stimme. Sie kontrahieren sich auch reflexartig bei lauten Geräuschen, aber nicht schnell genug, um das Ohr vor einem Knalltrauma, zum Beispiel bei einem Gewehrschuss, schützen zu können.
 
 Leitung des Schalls durch die Knochen
 
Dass Patienten ohne funktionsfähiges Mittelohr überhaupt noch etwas hören, verdanken sie der Leitung des Schalls durch die Knochen. Schwingungen der Schädelknochen können das Innenohr unmittelbar reizen, insbesondere bei Frequenzen oberhalb von 4 kHz. Bei tieferen Frequenzen werden die Knochenschwingungen auch auf den Luftraum des äußeren Gehörganges übertragen und von dort auf dem normalen Weg über das Trommelfell zum Innenohr geleitet. Diesen Schallweg kann jeder leicht überprüfen: Wenn man mit der eigenen Stimme summt und dabei mit dem Finger ein Ohr verschließt, klingt es so, als ob der Ton in diesem Ohr entstünde. Tatsächlich regt man mit der Stimme Schwingungen der Schädelknochen an, die ihrerseits den Luftraum im äußeren Gehörgang in Schwingung versetzen. Warum wird der Ton aber lauter? Je größer der Luftraum, desto mehr Energie ist nötig, um ihn in Schwingung zu versetzen. Wer im Sessellift in freier Luft hängt, wundert sich, wie laut er schreien muss, damit man ihn im nächsten Sessel noch hört. Wer den äußeren Gehörgang mit dem Finger verschließt, verkleinert den Luftraum, der durch die Knochenschwingungen angeregt wird. Deshalb wird die akustische Schwingungsamplitude größer und folglich auch die Lautheit.
 
Mit dem Rinne-Test wird die Empfindlichkeit für Luft- und Knochenschall miteinander verglichen. Eine oszillierende Stimmgabel, deren Stiel man an das Felsenbein hinter dem Ohr drückt, erzeugt dort Knochenschwingungen, die zur Tonempfindung führen. Mit dem Ausklingen der Stimmgabel wird der Ton leiser. Sobald man ihn nicht mehr hört, halte man die noch immer schwingende Stimmgabel dicht vor das Ohr. Wer den Ton dann wieder hört, hat keine Schallleitungsschwerhörigkeit. Sein Mittelohr funktioniert hinreichend gut.
 
 Das Innenohr
 
Wer das letzte Stück der Reizleitungskette im Innenohr, von der Steigbügelschwingung bis zur Reizung der Hörsinneszellen, verstehen will, muss sich zuerst die Anatomie des Innenohres klarmachen. Der knöcherne Schneckengang beherbergt drei Kanäle. Der mittlere häutige Gang ist im Querschnitt dreieckig und wird meistens Ductus cochlearis (schneckenförmiger Gang) genannt oder Scala media (mittlere Treppe, wobei an eine Wendeltreppe gedacht ist). Er befindet sich zwischen den beiden anderen Kanälen und endet blind nahe der Schneckenspitze. Die beiden anderen Kanäle sind an der Spitze durch ein Loch (Helicotrema) miteinander verbunden. Der Kanal, der vom Steigbügel zur Schneckenspitze führt, wird Vorhoftreppe (Scala vestibuli) genannt, der andere, der von der Schneckenspitze zum elastischen runden Fenster führt, heißt Paukentreppe (Scala tympani).
 
Der mittlere häutige Schneckengang trägt auf der Basilarmembran das Corti-Organ mit den Hörsinneszellen, die Haarzellen. Die äußeren Haarzellen sind durch büschelartige Fortsätze, die Stereovilli, mit der Deckmembran verbunden. Wenn der Steigbügel vor- und zurückschwingt, wird die Basilarmembran nach unten und oben bewegt. Das Corti-Organ verformt sich und die Stereovilli werden quer zum Schneckengang hin- und hergebogen. Die Spitzen der steifen Stereovilli sind durch jeweils einen, nur im Elektronenmikroskop sichtbaren Faden mit dem nächstlängeren Stereovillus verbunden. Die längeren Stereovilli ziehen die kürzeren an den Fäden zur Seite. Der mechanische Zug der Fäden zwischen den Stereovilli öffnet molekulare Kanäle in der Zellmembran der Mikrovilli. Durch diese Kanäle fließen Kaliumionen in die Haarzelle. Nur die Auslenkung in Richtung zum längsten Stereocilium erhöht die Zugspannung und führt zur Porenöffnung. Schon früher hatten die Elektrophysiologen beobachtet, dass Aktionspotenziale im Hörnerv nur bei der Einwärtsbewegung des Steigbügels auftreten. Das kann man nun verstehen, weil die Stereovilli im Corti-Organ so orientiert sind, dass sie nur durch die Einwärtsbewegung des Steigbügels gereizt werden.
 
Die Haarzellen sind Teil einer Zellschicht, welche die wässerigen Flüssigkeiten der Schneckengänge gegeneinander abgrenzt. Der mittlere häutige Schneckengang ist mit Endolymphe gefüllt, die reich an Kaliumionen ist. Die beiden anderen Gänge enthalten Perilymphe mit einer hohen Konzentration von Natriumionen. Die Stereovilli ragen in den mittleren Schneckengang und damit in die Endolymphe hinein, während der größte Teil der Haarzellen von der Perilymphe umgeben ist. Wie bei allen Zellen ist das Zellinnere gegenüber der Umgebung, hier der Perilymphe, negativ geladen. Im Innenohr ist außerdem die Endolymphe gegenüber der Perilymphe positiv geladen, weil Zellen in der Außenwand des mittleren Schneckenganges, der Stria vascularis, aktiv Kaliumionen in die Endolymphe pumpen. Über der Membran der Stereovilli liegt deshalb die auffallend große Potenzialdifferenz von 150 mV. Diese ungewöhnliche elektrische Eigenschaft des Innenohres beschleunigt den Einstrom der positiven Kaliumionen in die Haarzellen, sobald die Kanäle der Zellmembran durch den mechanischen Zug geöffnet werden. Der Einstrom positiver Ionen verkleinert das innen negative Ruhepotenzial. Diese Potenzialänderung ist das Rezeptorpotenzial der Haarzelle und die Ursache für die Auslösung von Aktionspotenzialen im Hörnerv.
 
Die Empfindlichkeit der Haarzellen ist groß. Eine Seitwärtsbewegung der Spitze der Stereovilli um 100 nm, was einer Auslenkung von ungefähr 1º entspricht, führt schon zu maximaler Reizung. Diese Auslenkung ist unter dem Lichtmikroskop nicht mehr zu sehen. Die Verschiebung der Spitze ist geringer als der Durchmesser der Stereovilli. Die Reizschwelle liegt bei 0,003º beziehungsweise 0,3 nm, ist also im Bereich von Moleküldimensionen. Beim Eiffelturm entspräche das einer Auslenkung der Spitze um einen Zentimeter. Das Ruhepotenzial der Haarzelle sinkt durch diesen Reiz um 0,1 mV, was ausreicht, um in einem nachgeschalteten Axon ein Aktionspotenzial auszulösen.
 
Die molekularbiologische Forschung an den Stereovilli hat zu einer interessanten Erklärung für die Adaptation, also die Regelung der Empfindlichkeit des Gehörs, geführt. Die Schalldruckamplituden sind nahe der Schmerzgrenze ungefähr eine Million Mal größer als die Schwellenreize. Bei diesem großen Arbeitsbereich muss das Ohr seine Empfindlichkeit den wechselnden Bedürfnissen anpassen. Die Empfindlichkeit der Haarzellen ist am größten, wenn die molekularen Fäden an ihren Spitzen stramm gespannt sind. Je höher die Fäden an den jeweils größeren benachbarten Stereovilli befestigt sind, desto fester sind sie gespannt. Die Anheftungsstelle besteht aus einer ovalen Molekülplatte, die an einem molekularen Netzwerk unter der Membran, dem Cytoskelett, befestigt ist. Im Cytoskelett wurde das Protein Aktin, in der Anheftungsplatte das Protein Myosin nachgewiesen. Diese Proteine sind von den Muskeln bekannt, die sich durch Verschiebungen zwischen Aktin- und Myosinmolekülen bewegen. Entsprechend kann die Anheftungsstelle für die Stereovilli auf dem Cytoskelett verschoben werden. Dadurch werden wahrscheinlich die Fäden zwischen den Stereocilien gespannt. Je fester sie gespannt sind, desto größer ist die Empfindlichkeit der Sinneszellen für Abbiegungen.
 
Die Sinneszellen des Gehörs müssen sehr schnell arbeiten, weil sie auf Schallfrequenzen bis zu 20 000 Schwingungen in der Sekunde reagieren. Daher öffnet der mechanische Zug der Molekülfäden die Poren für den Rezeptorstrom unmittelbar. Zwischen Reiz und Kanalöffnung müssen keine zeitaufwendigen chemischen Prozesse ablaufen. Wie ist es aber möglich, dass Haarzellen auf den Einstrom der Kaliumionen so schnell reagieren? Zellmembranen haben wegen ihrer elektrischen Kapazitäten und Widerstände Zeitkonstanten im Bereich von Millisekunden. Potenzialänderungen mit Frequenzen oberhalb von wenigen kHz sind deshalb nicht mehr zu erwarten. Die Haarzellen reagieren aber noch auf viel höhere Frequenzen, bei Fledermäusen bis zu 100 kHz! Wie das große Frequenzauflösungsvermögen zustande kommt, ist noch nicht eindeutig geklärt. Von Bedeutung sind wahrscheinlich nicht nur die elektrischen Eigenschaften der Haarzellen selbst, sondern auch die elektrischen Eigenschaften der Umgebung, in die sie eingebaut sind.
 
Lange bevor Elektrophysiologen die Membranpotenziale der Hörzellen mit feinen Mikroelektroden messen konnten, wussten sie, dass Haarzellen sehr schnell arbeiten. Das bewiesen die seit 1930 bekannten cochleären Mikrofonpotenziale. Sie lassen sich bereits mit gröberen Elektroden am oder im Innenohr registrieren. Mikrofonpotenziale ändern sich mit denselben hohen Frequenzen wie die Schallwellen. Die Haarzellen sind an ihrer Erzeugung maßgeblich beteiligt und müssen deshalb sehr schnell reagieren. Die Bezeichnung Mikrofonpotenzial weist darauf hin, dass diese elektrischen Signale genauso verstärkt, gespeichert und über einen Lautsprecher wiedergegeben werden können wie die Aufzeichnungen technischer Mikrofone. Die Wiedergabe von Musik, die man als Mikrofonpotenzial im lebenden Ohr registriert, hat eine hohe Qualität!
 
Im Hörnerv melden 95 Prozent der Nervenfasern dem Gehirn die Erregung der 3500 inneren Haarzellen. Jede innere Haarzelle ist mit ungefähr 20 Nervenzellen des Hörnervs verbunden. Von den 20 000 äußeren Haarzellen speisen dagegen jeweils ungefähr 50 ihre Erregung in die gleiche vielfach verzweigte Nervenfaser ein. Die Botschaft der vielen äußeren Haarzellen wird dem Gehirn somit von viel weniger Nervenfasern gemeldet als die der inneren. Der Informationsfluss geht überwiegend von den inneren Haarzellen aus. Von den Fasern des Hörnervs kann man mit Mikroelektroden Aktionspotenziale ableiten. Je lauter der akustische Reiz ist, desto mehr Aktionspotenziale werden registriert. Nach übereinstimmenden Untersuchungen können die Fasern außerdem durch Bestfrequenzen charakterisiert werden, das heißt, für jede Nervenfaser gibt es eine Reizfrequenz, für die sie besonders empfindlich ist. Die Bestfrequenzen lassen sich anhand der Reizschwellen von Hörnervenfasern im ganzen Hörbereich bestimmen. Das Ergebnis sind asymmetrisch v-förmige Abstimmkurven. Die Fasern des Hörnervs reagieren nur in einem jeweils beschränkten Frequenzbereich oberhalb und unterhalb ihrer Bestfrequenz. Obwohl die Schwellenkurven an Fasern gemessen wurden, die innere Haarzellen mit dem Gehirn verbinden, zeigt sich in dem v-förmigen Verlauf der Kurven die Mitwirkung der äußeren Haarzellen. Mithilfe des Giftes Kanamycin kann man selektiv die äußeren Haarzellen ausschalten. Als Folge davon werden die Schwellenkurven breiter und die Spitzen verschwinden. Die äußeren Haarzellen beeinflussen wahrscheinlich die inneren durch mechanische Oszillationen.
 
Fasern, die mit inneren Haarzellen nahe der Schneckenbasis verbunden sind, sind für hohe Frequenzen empfindlich, Fasern von der Schneckenspitze für tiefe. Das bedeutet, dass die hohen und tiefen Frequenzen dem Gehirn durch verschiedene Nervenbahnen gemeldet werden. Die Bestfrequenzen steigen von der Schneckenspitze zur Basis kontinuierlich an wie die Schwingungsfrequenzen der Saiten eines Klaviers. Für eine Oktave sind ungefähr 3,2 mm der Schnecke vorgesehen. Obwohl von Helmholtz die Abstimmkurven noch nicht kennen konnte, postulierte er bereits dieses Ordnungsmuster für die Frequenzen im Innenohr, und nannte es Ortsprinzip. Nach dem Ortsprinzip werden die Schwingungssignale im Innenohr nach ihren Frequenzen zerlegt und verschiedenen Haarzellen als Reiz zugeteilt.
 
Keine einzelne Nervenzelle könnte den ganzen riesigen Frequenzbereich in ihrer Erregung codieren. Nur wenige Nervenfasern können mehr als 100 Aktionspotenziale in der Sekunde hervorbringen. Im Ohr müssen aber Schallfrequenzen von 20 bis 20 000 Hz registriert und in Folgen von Aktionspotenzialen übersetzt werden. Das Problem wird durch das Ortsprinzip gelöst: Die Reize werden entsprechend ihrer Frequenz aufgespalten und auf frequenzspezifischen parallelen Bahnen zum Gehirn weitergeleitet.
 
 Frequenzanalyse durch die Wanderwelle und die aktive Verstärkung
 
Georg Simon Ohm, dessen Name heute in der Bezeichnung für das elektrische Widerstandsmaß fortlebt, entwickelte die Theorie, nach der das Ohr die akustischen Reize einer Frequenzanalyse unterzieht. Von den Forschungen des französischen Mathematikers und Politikers Baron Joseph de Fourier wusste er bereits, dass es möglich ist, jede mathematische Funktion als Summe von einfachen sinusförmigen Funktionen mit verschiedenen Amplituden und Frequenzen aufzufassen. Was man heute als Fourier-Analyse bezeichnet, ist die mathematische Zerlegung einer Funktion in ihre sinusförmigen Komponenten. Nach Ohm ist die Fourier-Analyse im Ohr durch die Frequenzanalyse praktisch verwirklicht. Die Schallreize werden im Ohr in ihre sinusförmigen Komponenten zerlegt und je nach ihrer Frequenz bestimmten Hörzellen als Reiz zugeteilt. Nach dem ohmschen Gesetz der Akustik ist das Ergebnis der Frequenzanalyse die Grundlage für die weitere Erregungsverarbeitung im Ohr und damit des Hörens. Die neurophysiologischen Forschungsergebnisse am Hörnerv bestätigen das Prinzip: Jede Faser des Hörnervs hat ihre Bestfrequenz.
 
Die Idee der Frequenzanalyse hat ihren Ursprung wahrscheinlich im Phänomen des Mittönens, wie es bei Musikinstrumenten zu hören ist. Wenn man zum Beispiel bei einem Klavier auf das Pedal tritt, sodass sich die Dämpfer von den Saiten heben, und dann mit einem anderen Instrument oder einer Stimmgabel einen Ton erzeugt, kann man anschließend die auf dieselbe Tonhöhe gestimmten Saiten weiter tönen hören. Die physikalische Ursache für das Mittönen ist die Resonanz: Die Schallwellen regen alle Saiten des Klaviers periodisch an, aber nur die mit der geeigneten Stimmung geraten in Resonanz. Diese Saiten übernehmen bei jeder ihrer Schwingungen weitere Energie aus den Schallwellen, sodass ihre Schwingungsamplitude wächst. Saiten, die auf einen anderen Ton gestimmt sind, schwingen mit anderer Frequenz als die anregenden Schallwellen. Deswegen verschieben sich bei ihnen die Schall- und Saitenschwingungen fortwährend gegeneinander. Je nach ihrer periodisch wechselnden Phasenlage werden die Saiten angeregt oder gebremst und geraten daher nicht in Resonanz. Nichtsinusförmige Schallwellen, die nach dem Fourier-Theorem aus mehreren überlagerten Sinusschwingungen bestehen, regen erwartungsgemäß im Klavier gleichzeitig mehrere Saiten an. Das akustische Signal wird so in seine Schwingungskomponenten zerlegt, das heißt frequenzanalysiert, und auf verschiedene Saiten verteilt.
 
Hermann von Helmholtz führte zur Erklärung der Frequenzanalyse im Innenohr das Resonanzprinzip ein. Er glaubte, dass die Basilarmembran je nach der Reizfrequenz an einer anderen Stelle in Resonanz gerate. Diese Annahme führt zum gerade besprochenen Ortsprinzip. Seine Hypothese bestätigte sich nicht, obwohl dafür spräche, dass die Basilarmembran an der Schneckenbasis 0,1 mm, an der Schneckenspitze dagegen nur 0,5 mm breit ist, was an die verschiedenen Saitenlängen im Klavier erinnert. Im Innenohr gibt es aber keine mechanische Spannungen wie bei den Klaviersaiten. Bei einem Druck auf die Basilarmembran mit einer feinen Sonde entsteht, wie man durch das Mikroskop sehen kann, eine beinahe kreisrunde Delle und keine längliche in Richtung der vermuteten mechanischen Spannung. Trotzdem ist das Resonanzprinzip in veränderter Form durch die neueste Forschung wieder in die Diskussion gekommen: Die Schwingungen der Basilarmembran werden durch aktive Bewegungen der äußeren Haarzellen unterstützt, was auch zur Resonanz führen kann.
 
Grundlage der neuen Erklärungen sind die Forschungen des Nobelpreisträgers Georg von Békésy in den 1940er-Jahren, als er die Wanderwellen im Innenohr entdeckte. Die Wanderwelle ist vergleichbar mit einer Oberflächenwelle in einem Wassergraben. Auf der Basilarmembran werden die Wanderwellen durch die Schwingungen des Steigbügels angeregt und wandern innerhalb von ungefähr 2 Millisekunden bis zur Schneckenspitze hinauf, wenn sie nicht vorher abklingen. Von Békésy beobachtete die Wanderwellen durch das Mikroskop an teilweise geöffneten Leichenohren unter Flimmerlichtbeleuchtung. Wenn die Frequenzen des akustischen Reizes und des Flimmerlichtes (Stroboskopes) übereinstimmen, werden die Wanderwellen immer in der gleichen Phasenlage beleuchtet, sodass sie trotz ihrer schnellen Bewegung scheinbar still stehen. Sie können dann beobachtet und vermessen werden. Die Wanderwellen sind wegen der Größenverhältnisse grafisch nicht darstellbar. Die Basilarmembran ist 33 mm lang. Die Amplituden der Wanderwellen, die von Békésy sah, blieben aber auch bei sehr lauten Reizen (120 dB) kleiner als ein tausendstel Millimeter. Der Ort des Wellenmaximums ändert sich mit der Frequenz so, wie man es sich nach dem Ortsprinzip vorstellt. Bei hohen Frequenzen befindet sich das Maximum an der Schneckenbasis und verschiebt sich mit fallender Frequenz zur Spitze.
 
Die Wanderwelle kann die Frequenzanalyse und das Ortsprinzip erklären. Schwierigkeiten bereitete allerdings zunächst die Flachheit der Wellen. Die Erklärung der engen Frequenzbereiche der Hörnervenfasern, die man an den spitzen Schwellenkurven ablesen kann, war anfangs nur mit zusätzlichen Hypothesen möglich. Durch neue Methoden können Wissenschaftler Wanderwellen an lebenden Ohren bis zu Amplituden von weniger als einem Nanometer, das heißt bis hinab in den Bereich molekularer Größenordnungen, messen.
 
Die Messungen erweiterten die Wanderwellentheorie um eine wichtige Erkenntnis: Im lebenden Ohr tritt in dem Bereich kurz vor dem Verebben der Wanderwelle ein Schwingungsgipfel auf, der ungefähr hundertmal größer ist als die Amplitude der Wanderwelle, die man von Leichenohren kannte. Das neu entdeckte Schwingungsmaximum kann die Ursache für den Verlauf der Schwellenkurven sein. Noch ist aber unklar, wieso die Schwingungen im Innenohr in einem so schmalen Bereich der Basilarmembran so groß werden. Zurzeit liegen dazu viele Forschungsergebnisse vor, die sich aber noch nicht zu einer durchgängigen Theorie vereinigen lassen. Die wichtigste Entdeckung zu dieser Frage stammt aus der Mitte der 1980er-Jahre: Die äußeren Haarzellen können die mechanischen Schwingungen der Basilarmembran verstärken. Sie sind nicht nur Sinneszellen, sondern können sich auch verkürzen und strecken. Man kann die Bewegungen an isolierten Haarzellen unter dem Mikroskop beobachten. Wenn sie durch Wechselstrom gereizt werden, folgen ihre Längenänderungen dem Reiz bis zu Frequenzen von 30 kHz. So schnell reagiert kein Muskel! Die Zelle kontrahiert jedoch nicht als Ganzes. Vielmehr gibt es unabhängige Einheiten in der Membran, die auf Änderungen des elektrischen Membranpotenzials blitzschnell mit einer Bewegung reagieren. Wahrscheinlich sind diese schnellen Bewegungen der äußeren Haarzellen für die Schwingungsmaxima im Innenohr verantwortlich. Eine Schädigung der äußeren Haarzellen führt jedenfalls zum Verlust der Frequenzselektivität.
 
Einen frühen Hinweis auf aktive Oszillationen im Innenohr gaben die gelegentlich aus Ohren herauskommenden Töne, die spontanen otoakustischen Emissionen. Dieses seltene pathologische Phänomen lässt sich jetzt auch an gesunden Ohren messen. Ungefähr 10 Millisekunden nach einem kurzen Schallreiz wird die otoakustische Emission im äußeren Gehörgang mit einem Mikrofon registriert. Sie tritt im gereizten aber auch im anderen Ohr auf und umfasst denselben Frequenzbereich wie der Reiz. Die Emissionen sind kein mechanisches Echo, weil sie nur bei gesunden äußeren Hörzellen auftreten. Darum benutzt man die otoakustischen Emissionen in medizinischen Tests für die Funktionstüchtigkeit des Innenohres. Der Gedanke liegt nahe, dass die normale Aufgabe der Schwingungen, welche die otoakustischen Emissionen hervorrufen, im Zusammenhang mit der Frequenzanalyse steht.
 
Prof. Dr. Christoph von Campenhausen
 
Weiterführende Erläuterungen finden Sie auch unter:
 
Hören: Wahrnehmung von Schallwellen
 
Grundlegende Informationen finden Sie unter:
 
Hören: Akustische Signale und Maßstäbe
 
 
Eska, Georg: Schall & Klang. Basel u. a. 1997.
 Hellbrück, Jürgen: Hören. Göttingen u. a. 1993.
 
Über das Hören. Einem Phänomen auf der Spur, herausgegeben von Thomas Vogel. Tübingen 21998.

Universal-Lexikon. 2012.

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